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Quasiteilchen

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Autor:
Hans-Peter Ahlsen

Festkörperphysik, sich wie freie Teilchen verhaltende Elementaranregungen von Vielteilchensystemen. Im Gegensatz zu den Elementarteilchen können Quasiteilchen nicht als freie Teilchen existieren, da sie durch die Wechselwirkungen des sie erzeugenden Systems definiert werden. Die niedrigsten angeregten Energiezustände eines fermionischen oder bosonischen Vielteilchensystems nehmen im allgemeinen die Form eines nicht-wechselwirkenden Gases freier Quasiteilchen an, die sowohl Bosonen als auch Fermionen sein können. Das Konzept der wechselwirkungsfreien Quasiteilchen erlaubt es daher, die einfache Theorie des idealen Bose- und Fermi-Gases auf die Behandlung von realen Systemen anzuwenden. Es bildet die theoretische Grundlage für die Modelle unabhängiger Teilchen, wie man sie beispielsweise in der Festkörperphysik in Form von Metallelektronen (Bändermodell) oder in der Kernphysik in Form von Nukleonen (Kernmodelle) findet.

Bei der formal-theoretischen Beschreibung werden die Quasiteilchen, also die Zustände mit elementaren Anregungen, durch Anwendung von Quasiteilchen-Erzeugungsoperatoren auf den anregungsfreien Grundzustand erzeugt. In Analogie zur Quantenfeldtheorie entspricht der Grundzustand des Systems dem Vakuumzustand. Diese Erzeugungsoperatoren und die dazu hermitesch adjungierten Operatoren, die Vernichtungsoperatoren, diagonalisieren zwar nicht den gesamten Hamiltonian H des wechselwirkenden Vielteilchensystems, dafür aber einen über den freien Hamiltonian H0 hinausgehenden Teil Quasiteilchen, so dass nur ein kleiner, als Störung zu behandelnder Teil Quasiteilchen als Wechselwirkung zwischen den Quasiteilchen zurückbleibt. Da die so erzeugten Anregungszustände keine exakt stationären Zustände des gesamten Hamiltonians H sind, kommt es zu Übergängen zwischen verschiedenen Anregungszuständen, d.h. die Quasiteilchen besitzen aufgrund ihrer gegenseitigen Wechselwirkung nur eine endliche Lebensdauer. Die Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren der Quasiteilchen setzen sich im allgemeinen aus Produkten bestimmter Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren der Teilchen des Systems zusammen und sind daher weder Bose- noch Fermi-Operatoren im strengen Sinn. Die Quasiteilchenoperatoren können auch durch bestimmte kanonische Transformationen der Teilchenoperatoren eingeführt werden (z.B. Bogoljubow-Walatin-Transformation) und stehen mit den verschiedenen inäquivalenten irreduziblen Darstellungen (myriotische Darstellungen) der kanonischen Vertauschungsregeln in engem Zusammenhang.

Besondere Aufmerksamkeit haben die Quasiteilchen in Supraleitern (Cooper-Paare) sowie in supraflüssigem 3He auf sich gezogen (Nobelpreise für Physik 1972 und 1996). In der Theorie der Supraleitung (BCS-Theorie) bzw. der Suprafluidität von 3He bilden Fermionen (Elektronen bzw. 3He-Atome) Quasiteilchen mit bosonischem Charakter, die bei hinreichend kleiner Temperatur in einen kohärenten Grundzustand kondensieren (Bose-Einstein-Kondensation). Die Quasiteilchen in supraflüssigem 3He sind ausserdem ein schönes Beispiel dafür, wie trotz einer enorm komplexen Struktur der internen (hauptsächlich magnetischen) Wechselwirkungen eine vereinfachte Beschreibung des Vielteilchensystems möglich ist: zur Wellenfunktion der gepaarten 3He-Atome tragen 18 verschiedene Komponenten des Gesamtsystems bei, die Wellenfunktion der Cooper-Paare kommt im Vergleich dazu mit zwei Komponenten aus (Paarwellenfunktion eines Supraleiters). Weitere Beispiele für Quasiteilchen sind unter anderen Phononen und Magnonen als Elementaranregungen in periodischen Kristallgittern, Fraktonen in fraktionalen elastischen Netzwerken, Plasmonen in Metallen oder Rotonen in supraflüssigem 4He.

Das Konzept der Quasiteilchen steht in engem Zusammenhang mit der Idee eines renormierten Teilchens (Renormierung).

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