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nichtlineare Dynamik

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Autor:
Hans-Peter Ahlsen

Nichtlineare Dynamik, Chaos, Fraktale, interdisziplinäres Forschungsgebiet, in dem nichtlineare Phänomene experimentell beobachtet sowie theoretisch analysiert und modelliert werden. Hierzu gehören alle Erscheinungen und Prozesse, die wesentlich durch nichtlineare Abhängigkeiten und Wechselwirkungen der beteiligten (physikalischen) Grössen bestimmt sind. Prominente Beispiele sind das Auftreten von sensitiven Abhängigkeiten und deterministischem Chaos, Strukturbildung und Selbstorganisation, Fraktale, Solitonen und viele Phänomene, die bei linearen Systemen nicht auftreten können, wohl aber bereits bei einfachen nichtlinearen Systemen in Physik, Chemie, Biologie und anderen Wissenschaften beobachtet werden. Die Nichtlinearität der zu Grunde liegenden (physikalischen) Gesetze spiegelt sich in nichtlinearen Termen der entsprechenden Modellgleichungen für die relevanten Variablen wider. (Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Zeitentwicklung probabilistischer Grössen auch bei nichtlinearen Systemen durch lineare Operatorgleichungen wie der Liouville-Gleichung erfolgen kann.)

Als Begründer der modernen nichtlinearen Dynamik gilt H. Poincaré, der Ende des 19. Jh. durch die Untersuchung des Dreikörperproblems auf die Möglichkeit sensitiver Abhängigkeit von den Anfangswerten und irregulärer Dynamik (Chaos) bei »einfachen« Systemen hinwies und gleichzeitig neue qualitative Analysemethoden einführte, die u.a. die Entwicklung der Topologie stark mitbeeinflussten. Im Gegensatz zur Mathematik wurden Poincarés tiefe und wegweisende Einsichten in der Physik zunächst wenig beachtet, nicht zuletzt auch, weil kurz darauf die Relativitätstheorie und die Quantentheorie grosse Aufmerksamkeit erfuhren. Pioniere der nichtlinearen Dynamik dieser Zeit sind z.B. der amerikanische Mathematiker G.D. Birkhoff (Birkhoff-Theorem, Birkhoff-Theorie, Poincaré-Birkhoff-Theorem), der deutsche Ingenieur G. Duffing (Duffing-Oszillator), die Niederländer B. van der Pol und B. van der Mark (Van-der-Pol-Oszillator), die Mathematiker Cartwright, Littlewood und Levinson und insbesondere die berühmte russische Schule um A.A. Andronow. Gegen Ende der 40er Jahre nahm auch wegen der Verfügbarkeit der ersten Digitalrechner das Interesse an nichtlinearen Phänomenen wieder zu. John von Neumann entwickelte eine mathematische Theorie selbstreproduzierender Automaten und konstruierte mit S. Ulam die ersten zellulären Automaten. 1952 publizierte Turing eine fundamentale Arbeit über Strukturbildung und morphogenetische Prozesse, deren Bedeutung erst viel später erkannt wurde, und in den Jahren 1954, 1963 und 1973 erschienen die berühmten Arbeiten von A.N. Kolmogorov,  V.I. Arnold und J. Moser zur Störung integrabler Hamiltonscher Systeme (KAM-Theorem). E. Lorenz beobachtete 1963 bei numerischen Simulationen eines einfachen nichtlinearen metereologischen Modellsystems das Auftreten chaotischer Oszillationen und empfindlicher Abhängigkeit von den Anfangswerten (Lorenz-System). Seither ist anhand zahlreicher Beispiele das Bewusstsein gewachsen, dass einfache nichtlineare Systeme komplexe Dynamik zeigen können (wobei der Umkehrschluss, dass jedes komplexe Phänomen durch einfache nichtlineare Modelle beschreibbar ist, natürlich nicht gilt !). 1977 erkannte M. Feigenbaum, dass der Weg ins Chaos über Periodenverdopplung allgemein gültigen Skalierungsgesetzen unterliegt. Dieses Ergebnis führte später zur Entdeckung weiterer universeller Eigenschaften gewisser Klassen nichtlinearer Systeme. Als wichtiges Bindeglied zwischen Theorie und Experiment zeigte Takens 1980, dass es möglich ist, aus einer gemessenen Zeitreihe die Zustände eines dynamischen Systems zu rekonstruieren. Anhand einer solchen Attraktor-Rekonstruktion können dann Modelle entwickelt oder charakteristische Grössen wie z.B. Ljapunow-Exponenten oder Rényi-Dimensionen bestimmt werden. Seit Beginn der 80er Jahre sind viele etablierte Bereiche der nichtlinearen Dynamik (z.B. die Theorie der Bifurkationen) erheblich weiter entwickelt worden, aber es entstanden auch neue Teilgebiete, wie etwa das Quantenchaos, die nichtlineare Zeitreihenanalyse oder Chaoskontrolle.

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