lebendes System, biologisches System, Daseinsform der Materie. Das Phänomen Leben ist eine neue Systemeigenschaft, welche bei einem bestimmten Organisationsniveau nichtlebender Systeme auftreten kann. Die folgende Definition ist ein Versuch, Leben als mögliche Systemeigenschaft unabhängig von der konkreten irdischen Form zu definieren: Lebende Systeme sind 1) von der Struktur her extrem komplexe Systeme, 2) vom thermodynamischen Standpunkt offene Systeme, 3) von ihrer Funktion informationsverarbeitende Systeme 4) und in der Zeit evolutionierende Systeme. Es sind diese vier Eigenschaften lebender Systeme, welche u.a. die Entwicklung der Biophysik als selbständigen Wissenschaftszweig herausgefordert haben.
1) Leben ist nur möglich als Eigenschaft sehr komplexer Systeme. Lebende Systeme zeichnen sich durch eine sehr inhomogene, insbesondere räumlich und zeitlich aperiodische Struktur aus. Sie haben eine innere Ordnung (stoffliche Ungleichverteilung), welche über längere Zeiträume relativ unabhängig von der Umgebung existiert. Es gibt eine kleinste Struktureinheit des Lebens, welche keine weitere Zerlegung ohne Verlust der Systemeigenschaft Leben zulässt, die Zelle. Ein wesentliches Strukturprinzip lebender Systeme ist die hierarchische Ordnung mit einer Vielzahl von Organisationsebenen. Mehrere ähnliche, individuelle Struktureinheiten der niederen Hierarchieebene werden zu Populationen auf der nächsthöheren Ebene zusammengefasst: ZelleGewebeOrganOrganismus (Individuum)PopulationÖkosystem. Im simpelsten Falle ist ein Organismus mit einer Zelle identisch. Kompliziertere Organismen sind multizellulär. Gleichartig spezialisierte Zellen bilden ein Gewebe. Verschiedene Gewebe formen ein Organ, welches die Erfüllung einer speziellen Funktion für den Gesamtorganismus des Individuums übernimmt usw.
2) Lebende Systeme existieren nur im ständigen Austausch von Stoffen und Energie mit ihrer Umwelt, anders wäre die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht möglich. Jedes Lebewesen ist daher in ein Ökosystem einbezogen, welchem es Stoffe und Energie entnehmen kann (offenes System). Lebende Systeme befinden sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht (nur im Zustand des Todes), sondern in einen dynamischen Fliessgleichgewicht. Trotz des ständigen Material- und Energieaustausches mit der Umgebung bleiben die inneren Systemeigenschaften relativ konstant (Homöostase), was durch komplizierte Rückkopplungsmechanismen erreicht wird.
3) Lebende Systeme sind in erster Linie informationsverarbeitende Systeme. Jedes Lebewesen (jeder Organismus) enthält einen Genom, in welchem die Information zu seinem Bauplan, seiner Physiologie und sein Entwicklungsprogramm von der Entstehung des Lebewesens, dem Wachstum und der strukturellen und funktionellen Differenzierung bis zu seinem Tod codiert sind. Die Entwicklung eines Lebewesens (Ontogonese) ist die Realisierung dieses Programms unter dem Einfluss des Milieus. Im Zusammenhang mit dem Stoff- und Energieaustausch analysieren lebende Systeme ihre Umgebung. Veränderungen nehmen sie als Signale wahr (Reizbarkeit), welche zu inneren Reaktionen führen, um die Homöostase zu sichern. Mit dem Resultat dieser Reaktionen wirken sie wiederum auf die Umwelt ein. Lebende Systeme können sich wiederholende Reize aus ihrer Umgebung als solche erkennen und mit Reaktionsmustern antworten, die sich bei den ersten Reizereignissen als adäquat erwiesen haben (Lernfähigkeit). Die Weitergabe erlernter Information findet bei hochentwickelten Lebewesen innerhalb der Population durch Kommunikation statt.
4) Populationen von Organismen unterliegen der biologischen Evolution. Lebewesen altern und haben nur eine begrenzte Lebensdauer. Offenbar gelingt es ihnen aufgrund ihrer hohen Komplexität nur teilweise, funktionsbedingten Verschleiss zu kompensieren. Sie akkumulieren im Laufe der Zeit Defekte, insbesondere Regulationsstörungen, welche schliesslich zum Tod führen. Lebende Systeme überdauern grosse Zeiträume durch Fortpflanzung. Dabei wird das Genom an die Nachkommenschaft weitergegeben. Im speziellen Fall der sexuellen Fortpflanzung können unterschiedliche Individuen einer Art genetische Informationen für die Nachkommenschaft kombinieren. Während der Aufbewahrung des Genoms im Elternorganismus und seiner Verdopplung (Replikation) zur Weitergabe einer Kopie an die Nachkommenschaft entstehen genetische Veränderungen (Mutationen, z.B. durch ionisierende Strahlung, chemische Noxen, Unvollkommenheit des Replikations- und Reparaturapparates des Genoms etc.), welche zu einer genetischen Variabilität innerhalb der Population und Individualität des einzelnen Organismus führen. Darin sind Unterschiede im Vermögen unterschiedlicher Individuen bedingt, sich an variierende Umweltbedingungen anpassen zu können. Immer bessere Anpassung führt zu immer komplexeren inneren Strukturen und Funktionen von lebenden Systemen. Kooperation von Lebewesen ist eine der Strategien im Ringen um bessere Chancen, nicht der natürlichen Selektion zum Opfer zu fallen. Bei dem Zusammenwirken von vielen Lebewesen einer Art spricht man von Vergesellschaftung. Die dadurch geförderte Verbesserung der Kommunikation zwischen Lebewesen und der Informationsverarbeitung im Individuum kann schliesslich in eine neue, höhere Qualität umschlagen: die Entstehung sozialer Systeme.
Die Entstehung des Lebens auf der Erde ist ein Ergebnis der Evolution nichtlebender Materie im Verlaufe von Jahrmillionen (abiogener Ursprung) und im Prinzip durch physiko-chemische Gesetzmässigkeiten erklärbar. Älteste (unsichere) Lebensspuren sind in der Form fossilisierter Spuren der vermutlichen Stoffwechseltätigkeit von Bakterien in Gesteinen mit einem Alter von bis zu 3,5 Mrd. Jahren gefunden worden. Teilweise wird der Beginn von Leben auf der Erde sogar 3,8 Mrd. Jahre zurückdatiert. Als sichere Lebensspuren gelten die Stromatolithen (lamellenförmige Kalkknollen, wie sie von heute lebenden Zyanobakterien bekannt sind) in Ablagerungen des Fig-Tree-Komplexes (Sediment in Transvaal/Südafrika). Hypothesen über die Enstehung des Lebens gehen von einer präbiotischen Phase aus, in welcher sich zunächst organische Moleküle als Monomere späterer Biomakromoleküle in einem wässrigen Milieu (»Ursuppe«) infolge chemischer Reaktionen bilden. Dieser Prozess präbiotischer Synthesen konnte unter Laborbedingungen simuliert werden. Eine »Uratmosphäre« aus Ammoniak, Wasserstoff, Methan und Wasser wurde fortgesetzt elektrischen Funkentladungen (»Blitzschlägen«), Abkühlungen und Erhitzungen ausgesetzt (Experiment von S.L. Miller, 1953). Im Verlaufe einer Woche bildete sich in der wässrigen Phase ein Gemisch organischer Verbindungen, welche auch Fettsäuren, Zucker und Aminosäuren enthielt.
Ein entscheidender Schritt war die Entstehung von Biomakromolekülen mit der Fähigkeit zur Autoreduplikation. Aus heutiger Sicht wären Ribonucleinsäuren (RNS) geeignete Kandidaten als primäre Biomakromoleküle, weil sie die Fähigkeit der Informationsspeicherung (in der Nucleotidbasensequenz) und der Informationsrealisierung (Ribozyme) in sich vereinigen. Dieser RNS-Welt folgte offenbar ein koadaptiertes zelluläres System aus passiven Desoxyribonucleinsäuren zur Archivierung des Genoms, Proteinen zur Realisierung des genetischen Programmes und Glucose-basierten Kohlenhydraten und Fetten zur Energiespeicherung. Viren und Bakteriophagen sind erst später als zelluläre Parasiten entstanden. Die Entstehung von Leben aus nichtlebender Materie ist offenbar ein historisch seltenes Ereignis. Sind biologische Systeme erst einmal in einem Lebensraum entstanden, werden sie schnell so effizient, dass sie offenbar die erneute abiogene Entstehung im selben Lebensraum durch Konkurrenz um Ressourcen verhindern.
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