Strömungsmechanik
Flüssigkeiten - die jedem aus dem alltäglichen Leben selbstverständlich bekannt sind - stellen vom Standpunkt der physikalischen Beschreibung ein nicht unerhebliches Problem dar, da sie weder die langreichweitige periodische Ordnung von Kristallen noch die statistisch gut beschreibbare Unordnung von verdünnten Systemen - also Gasen - aufweisen. Nichtsdestoweniger sind die Beschreibung und das Verständnis des Aufbaus und des Verhaltens dieses Zustands der Materie von ausserordentlicher Bedeutung: Im Erdinneren, in den Meeren, in lebenden Zellen und zahlreichen technischen Prozessen spielen Flüssigkeiten eine entscheidende Rolle.
Der Zustand
»Flüssigkeit« lässt sich am ehesten über die Betrachtung des Phasendiagramms ([16]Abb. 1) definieren. In einem engeren
Sinne kann man von Flüssigkeiten nur in einem Temperaturintervall zwischen der
Temperatur des Tripelpunkts, Tt, und der
Temperatur Tc des kritischen Punkts
sprechen. Unterhalb des Tripelpunkts können nur noch Gasphase und Festkörper
koexistieren, während oberhalb des kritischen Punkts keine Unterscheidung
zwischen Gas und Flüssigkeit mehr möglich ist. In erweiterter Form bezeichnet
man häufig gasförmige und flüssige Phase gemeinsam als fluide Phasen oder
einfach als Fluide, wobei die Unterscheidung unterhalb des kritischen Punkts
durch die Kompressibilität gegeben ist. Im weiteren werden wir unter den
Flüssigkeiten, die den Bereich Flüssigkeitsphysik betreffen, aber nur die oben
definierten Flüssigkeiten im engeren Sinne verstehen.
Um eine mikroskopische Beschreibung der makroskopischen Eigenschaften einer Flüssigkeit möglich zu machen, benötigt man zuerst Information über das Wechselwirkungspotential zwischen den Molekülen. Im Gegensatz zu den Gasen, bei denen die kinetische Energie die potentielle wesentlich übertrifft, so dass letztere nur als Korrekturterm zur Theorie idealer Gase hinzugefügt werden muss, überwiegt bei Flüssigkeiten der potentielle Anteil deutlich gegenüber dem kinetischen. Für einfache Flüssigkeiten kann die intermolekulare Wechselwirkung F(r) über das Lennard-Jones-Potential
beschrieben werden,
wobei F0 einen Energieparameter
und r0 eine charakteristische Länge darstellen. Der Term
proportional zu r-12 beschreibt die bei
kurzen Abständen auftretende repulsive Wechselwirkung, während der zu r-6 proportionale Term die
langreichweitigen anziehenden Effekte berücksichtigt. Um Aussagen über das
Verhalten einer Flüssigkeit machen zu können, benötigt man nun eigentlich eine
Berechnung der potentiellen Energie zwischen allen ihren Molekülen. Angesichts
des bereits erwähnten Fehlens einer langreichweitigen Ordnung ist dies im
allgemeinen nicht möglich. Allerdings zeigen Flüssigkeiten aufgrund der
räumlichen Ausdehnung der Moleküle eine Nahordnung
([17]Abb. 2), die zu ihrer Beschreibung
herangezogen werden kann. Man definiert die Korrelationsfunktion g(r, t),
welche die Wahrscheinlichkeit beschreibt, dass am Ort r
zur Zeit t ein Molekül gefunden wird, unter der
Voraussetzung, dass am Ort r = 0 zur Zeit t = 0 eines war. Soll das Teilchen, das am Ort r zur Zeit t gefunden wird,
das gleiche Teilchen sein, welches zur Zeit t = 0 am Ort r = 0 war, so handelt es sich bei der Korrelationsfunktion
um die Autokorrelationsfunktion. Handelt es sich um ein anderes Teilchen, so
erhält man die Paarkorrelationsfunktion. Unter Verwendung der
Paarkorrelationsfunktion gp(r, 0) lässt sich die potentielle Energie in der
Form
schreiben. Damit wird klar, dass die Kenntnis der Paarkorrelationsfunktion - bei vorhandenem Modell für die intermolekulare Wechselwirkung F(r) - den Zugang zur Beschreibung der inneren Energie der Flüssigkeit darstellt. Über die bekannten thermodynamischen Beziehungen kann man aus dieser makroskopische Grössen wie Wärmekapazität, thermische Ausdehnung etc. bestimmen. Auch Transportkoeffizienten wie der Diffusionskoeffizient oder die Viskosität der Flüssigkeit können über die Korrelationsfunktionen beschrieben werden, wobei hier - da es sich um dynamische Prozesse handelt - die Zeitabhängigkeit von g(r, t) zum Tragen kommt.
Die Bestimmung der Korrelationsfunktionen kann experimentell durch Streuverfahren erfolgen. Die Intensität der gestreuten Partikel als Funktion des Streuvektors q kann in der Form
geschrieben werden,
wobei I0 die Intensität des einfallenden Teilchenstrahls,
N die Zahl der Streuer und a
die Streuamplitude (also die Wechselwirkung zwischen streuendem und gestreutem
Teilchen) bezeichnen. Die Grösse S(q) wird als Strukturfaktor bezeichnet und ist die
Fourier-Transformierte (Fourier-Transformation) der Korrelationsfunktion. Die
Bestimmung des Strukturfaktors über eine Messung der Streuintensität lässt daher
die Ermittlung der Korrelationsfunktion einer realen Flüssigkeit zu, wie sie in
[18]Abb.3 für flüssiges Argon gezeigt ist.
Die Wahl der zu streuenden Partikel hängt im Prinzip nur von der Grösse der
streuenden Einheiten in der Flüssigkeit ab. So werden kolloidale Suspensionen
bevorzugt mit Streuung sichtbaren Lichts, Flüssigkeiten mit kleineren Streuern
mit Röntgenstrahlung, Neutronen oder Elektronen untersucht. Neben der Wahl der
geeigneten Wellenlänge der Strahlung ist man zudem bemüht, die Strahlung so zu
wählen, dass die Absorption in der Flüssigkeit klein und die Streuung stark ist.
Nachdem wir somit die Möglichkeiten der mikroskopischen Beschreibung von Flüssigkeiten betrachtet haben, sollen im weiteren ihre charakteristischen makroskopischen Eigenschaften erörtert werden. Dazu ist es zweckmässig, die Flüssigkeiten in verschiedene Klassen zu unterteilen. Zuvor war bereits von einfachen Flüssigkeiten die Rede, wobei dort implizit angenommen wurde, dass dies Flüssigkeiten mit einer einfachen, d.h. nur vom Abstand zwischen den Molekülen abhängigen Wechselwirkung sind. Dies trifft für Systeme wie flüssiges Argon, in guter Näherung auch für niedermolekulare Flüssigkeiten und bei Betrachtung einiger Eigenschaften auch für Wasser zu. Als Gegenstück zu den einfachen Flüssigkeiten definiert man die komplexen Flüssigkeiten als hochmolekulare Systeme mit komplexen Wechselwirkungen, also z.B. Polymere, die grössere räumliche Strukturen ausbilden.
Neben dieser
Klassifizierung ist es häufig auch nützlich, Flüssigkeiten nach ihrem
Fliessverhalten einzuteilen. Dabei dient die Abhängigkeit einer der
charakteristischen Eigenschaften einer Flüssigkeit, ihrer Zähigkeit oder
Viskosität, von dem ihr aufgeprägten Geschwindigkeitsgradienten, die Scherrate,
als Klassifizierungsmerkmal. Im einfachsten Fall hängt die Viskosität h,
die nach dem Newtonschen Reibungsansatz (nach I. Newton) über den Zusammenhang
zwischen Schubspannung t und Scherrate gemäss t = -h
definiert ist, nicht von der Scherrate ab. In diesem Falle bezeichnet man die
Flüssigkeit als newtonsch. Ändert sich die Viskosität mit steigender Scherrate,
so spricht man von nicht-newtonschen Flüssigkeiten. Es gibt hierbei
scherverdünnende oder scherverdickende Flüssigkeiten, bei denen die Viskosität
mit steigender Scherrate ab- bzw. zunimmt ([19]Abb. 4). Zudem gibt es Flüssigkeiten,
bei denen der Zusammenhang zwischen Schubspannung und Scherung neben dem
bereits erwähnten Newtonschen Reibungsterm einen Hookeschen, elastischen Anteil
enthält (nach R. Hooke). In diesem Falle, der z.B. bei Klebstofflösungen
experimentell leicht zu beobachten ist, spricht man von viskoelastischen
Flüssigkeiten. Zur Untersuchung der viskosen Eigenschaften von Flüssigkeiten
bedient man sich unterschiedlicher Vorrichtungen, die grundsätzlich
hinsichtlich der Variabilität der Scherrate unterschieden werden können. Für
newtonsche Flüssigkeiten werden bevorzugt Viskosimeter verwendet, bei denen die
Scherrate nicht variiert werden kann, beispielsweise Kapillarviskosimeter. Bei
nicht-newtonschen Flüssigkeiten kommen Rheometer zum Einsatz, bei denen die
Flüssigkeit zwischen Platten variabler Rotationsgeschwindigkeit gehalten wird ([20]Abb. 5). Die Variation der
Rotationsgeschwindigkeit erlaubt die Änderung der Scherrate. Neben den
isotropen Flüssigkeiten, also solchen Systemen, die sich makroskopisch im
thermischen Gleichgewicht wie Flüssigkeiten aus sphärischen Teilchen verhalten,
haben in den letzten Jahren anisotrope Flüssigkeiten zunehmendes Interesse
gefunden. Solche Flüssigkeiten zeigen auch im thermodynamischen Gleichgewicht
richtungsabhängige Eigenschaften, wie man sie bei Festkörpern gewohnt ist. In
kolloidalen Suspensionen können diese Richtungsabhängigkeiten häufig durch den
Einfluss äusserer Felder gesteuert werden, was z.B. im Falle der Ferrofluide oder
magnetischen Flüssigkeiten zu erheblichen technischen Anwendungsmöglichkeiten
geführt hat.
Die zweite
charakteristische Eigenschaft einer Flüssigkeit neben der schon erwähnten
Zähigkeit ist ihre Oberflächenspannung. An einer freien Oberfläche einer
Flüssigkeit treten ins Innere der Flüssigkeit gerichtete Kräfte auf, die darauf
beruhen, dass die Oberflächenmoleküle nur in Richtung des Flüssigkeitsinneren
mit anderen Flüssigkeitsmolekülen wechselwirken können. Im Falle einer freien
Flüssigkeitsmenge wird die Oberflächenspannung zu einer Minimierung der
Flüssigkeitsoberfläche führen, indem sie dafür sorgt, dass das
Flüssigkeitsvolumen Kugelform annimmt. Befindet sich die Flüssigkeit in Kontakt
mit Wänden und einer Gasphase, so treten Kapillarkräfte auf, die z.B. beim
Transport von Treibstoffen in Satellitentanks ([21]Abb. 6, s. auch [22]Abb. 7) von grosser technischer
Bedeutung für eine wichtige Zukunftstechnologie sind.
Die makroskopische Bewegung von Flüssigkeiten wird im Rahmen der Hydrodynamik und Strömungsmechanik beschrieben. Die dort untersuchten Transportphänomene und die damit verbundenen Strömungsinstabilitäten verbinden die Gebiete Flüssigkeitsphysik und Hydrodynamik mit der Erforschung von Turbulenz und Chaos. Dies zeigt in besonderer Weise, dass die Flüssigkeitsphysik ein interdisziplinäres Feld am Schnittpunkt der Physik kondensierter Materie mit Thermodynamik, Strömungsmechanik, Chaosforschung, technischer Anwendung und zahlreichen anderen Gebieten ist.
Auch in der Quantentheorie spielen Flüssigkeiten eine interessante Rolle - bei extrem tiefen Temperaturen wird flüssiges Helium zu einer Quantenflüssigkeit und zeigt das einzigartige Phänomen der Suprafluidität, das eng mit der Bose-Einstein-Kondensation verwandt ist.
Literatur:
K. Stierstadt: Physik
der Materie, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1989;
Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik Band 5: Vielteilchen-Systeme,
de Gruyter, Berlin, 1992.
Flüssigkeitsphysik 1: Das Phasendiagramm einer einfachen Flüssigkeit.
Flüssigkeitsphysik 2: Zur Paarkorrelationsfunktion: Bestimmt wird die Zahl der Teilchen, die sich in einem bestimmten Abstandsbereich von einem ausgezeichneten Teilchen (schwarz) zu einem Zeitpunkt t befinden.
Flüssigkeitsphysik 3: Der statische Strukturfaktor für flüssiges Argon (nach Nikolaj, Pings, J. Chem. Phys. 46 (1967) 1401.).
Flüssigkeitsphysik 4: Die Scherratenabhängigkeit der Viskosität für eine newtonsche und eine scherverdünnende, nicht-newtonsche Flüssigkeit.
Flüssigkeitsphysik 5: Verschiedene Anordnung von Messzellen für Rheometer. Im allgemeinen wird eine der Platten mit variabler Geschwindigkeit rotiert, während an der zweiten das von der Flüssigkeit übertragene Drehmoment gemessen wird.
Flüssigkeitsphysik 6: Prinzip der kapillaren Steighilfen in einem modernen Satellitentank.
Flüssigkeitsphysik 7: Kapillarer Transport einer Flüssigkeit in einem Modell eiens Satellitentanks, beobachtet unter reduzierter Schwerkraft am Fallturm Bremen (mit freundlicher Genehmigung von M. Dreyer).
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